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Touch Me: Nudes from the Miettinen Collection


13.06. – 01.08.2020
Temporary Showroom, Erdgeschoss

Öffnungszeiten: Samstags von 12 – 18 Uhr

Was für ein Sommer. Wegen der Corona-Pandemie erleben wir Monate, in denen die Körper wieder hüllenloser werden, die Gesichter aber verborgen werden müssen – wenigstens teilweise. Lesbar bleiben nur die Körper und die Augen. In unserer digitalen, bildgesättigten Gegenwart sind sie der am besten trainierte Muskel des menschlichen Körpers. Dennoch gilt die hygienische Unschuldsvermutung. Die Hände muss man ständig waschen, was aber ist mit der Iris? Die wäscht sich niemand, dabei wissen wir, dass das Auge die promiskuitivste Partie unseres Körpers ist. So gesehen gibt es keinen besseren Moment für eine Ausstellung mit Aktbildern als jetzt. Anfassen bleibt schwierig, Anschauen ist dafür ziemlich safe.    

Das Zeitgenössische überwiegt in „Touch Me“, doch die Sammlung Miettinen kann mit Aktdarstellungen aus vielen Epochen aufwarten. Das ist gut so, denn wer Nacktheit ausstellt muss sich bewusst sein, dass die Repräsentation einiger nackter Körper und die Abwesenheit anderer das Bewusstsein bildet. Die westliche Kunstgeschichte bezieht ihr Idealbild von griechischen Statuen. Wie bei uns modernen Maskenträgern bleibt die Identität des Torsos aus dem 1. Jahrhundert obskur, da der Kopf fehlt. Ist es ein Dionysos oder ein Apoll?  Wer sich solche Antiken heute, im Sommer von Black Lives Matter, ansieht, der erkennt darin nicht nur mythische Wesen, sondern auch den europäischen Willen zum Weißsein, ein Ideologem, das sich auch von unbestreitbar vorhandenen Resten früherer Bemalung nicht infrage stellen ließ. Die Götter waren bunt, doch die Körper in der Kunst sind lange vor allem weiße Körper gewesen. Der Akt wird erst jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts, allmählich aus dieser Sackgasse befreit. Der junge Künstler Amoako Boafo malt einen liegenden schwarzen Mann mit überschlagenen Beinen, der auf einer Art Diwan ruht und ein Buch liest. Er ist alles, was das Stereotyp in weißen Gesellschaften für schwarze Männer nicht vorsieht: introvertiert und erotisch, ohne offensiv zu sein, erinnert er mit seiner langen, hindrapierten Gestalt an eine Figur von Ingres.        

Nackte Körper sind politisch. Dass die „Bloody Mary“ von Mari Sunna menstruiert beispielsweise ist ein Statement. Aviva Silvermans Jesus stellt sich schützend vor sein Ebenbild („Brotherhood begins in shared pain“). Und dann ist da ein krakeliges, scheinbar schnell hingeworfener Akt, bei dem die Signatur überrascht: Francis Picabia. Man kennt diesen großen Künstler des 20. Jahrhunderts als Spieler mit schwer fassbarem Oeuvre, als Playboy, der als Impressionist begann, später zu den Dadaisten zählte und ab Mitte der 1920er statt in Paris  lieber in einem Schloss an der Cote d’Azur lebte. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Südfrankreich von Nazi-Kollaborateuren beherrscht. In Picabias Werk aus der Zeit dominieren starke, sonnenbeschienene Frauenkörper wie aus einem Leni-Riefenstahl-Film. Tatsächlich sind sie wohl als Persiflage auf die NS-Ästhetik zu lesen. Mit einem Unterschied: nackte Männer sieht man bei Picabia seltener als bei Riefenstahl. Umso überraschender ist die kleinformatige Zeichnung aus dem Jahr 1925-1927, die über die Familie von Marcel Broodhaers in die Miettinen Collection kam. Sie zeigt, in schnellen Strichen aufs Blatt geworfen, zwei hüllenlose Männer, die sich küssen und an den Händen halten. Das Blatt hat etwas berührend Klandestines und muss in einer Zeit entstanden sein, in der der gezeigte Akt der Intimität potentiell tödlich oder wenigstens tabu war. Hatte der Frauenheld Picabia eine homerotische Ader? Oder interessierte ihn einfach das Sujet? Fand er Schwule kurios, erinnerte ihre Verfehmtheit an die der Avantgardisten?      

Wie vertrackt und ambivalent die Darstellung nackter Körper doch sein kann! Es kann eben keinen falscheren Begriff geben als den von der nackten Wahrheit. Nacktheit verbirgt und verwischt, legt offen, zieht an und stößt ab. Der Akt ist die älteste Kunstgattung und auch die rätselhafteste. Bis heute baut er wacklige Brücken über den tiefen Graben zwischen Hochkunst und Wichsvorlage. Wo genau liegt eigentlich der Unterschied zwischen einem David Hockney Foto von „Peter showering“ und Bel Ami? Wo der zwischen einer Tom of Finland-Zeichnung und schwuler Pornografie? Der Witz ist, dass so eine Arbeit eben beides zugleich sein kann: erotische Inspirationsquelle und Kunstwerk. In der Ambivalenz liegt die Kraft des Akts. Ein Akt ist immer körperlich und Körper sind unberechenbar. Keiner ist Herr über die eigene Biologie, unsere Reaktion auf die Nacktheit anderer sind willentlich nicht steuerbar. Davon leben heute ganze Wirtschaftszweige womit wir wieder bei der vermuteten Unschuld der Augen wären (jener, die nicht existiert).      

Francis Picabias Aktbilder aus der Kriegszeit hatten eine Vorlage: französische Erotikmagazine. Die Leiber kamen vom Kiosk, nicht aus dem alten Griechenland. Seine Malerei in der Zeit war ein früher Akt der Aneignung von Massenkultur, so früh, dass er sogar für einen Dadaisten unerhört war. Einer der Käufer dieser Akte war ein algerischer Händler, der die Bilder an Bordelle in Nordafrika weiterverkaufte. Avantgardekunst, die auf Pin-Up-Heften basierte, hing nun im Soldatenpuff. Eine Wendung, die Picabia sicher gefiel und die man als Degradierung und als Emanzipation seiner Bilder zugleich verstehen kann. Der unter anderem von Markus Lüpertz betriebene Neoexistenzialismus („Heiliger Sebastian“, 1987) führte zurück zur Figuration und zum Akt, wofür auch das Werk Rainer Fetting steht („Cop relaxing, Sebastian“, 2004). Jürgen Klaukes Fotografie aus den Siebzigern erinnert daran, dass der Angezogene viel transgressiver sein kann als ein nackter Körper. Die Maske bekleidet nicht das Gesicht, sondern fetischisiert den Körper.        

Und heute? Wir können uns die Nackten auf den Bildschirm holen, können sie virtuell optimieren und zusammenbauen wie es sich ein Willi Baumeister 1928 mit seinem collagierten „Boxer “noch nicht träumen ließ. Brandon Lipchiks (*1993) Leinwände beginnen, wo es keine Physis gibt: im Digitalen. Der mit Computerspielen und Designsoftware aufgewachsene Amerikaner schafft mit Airbrushtechniken einen verführerischen Raum, in dem nichts mehr „echt“ ist. „Overlooking Faraglioni“ erzeugt trotzdem eine starke Wirkung: das Bild ist verspielt, sexy und aufregend kühl. So wie dieser Sommer, mit Maske, Seife und ungewaschenen Augen.  

Text: Boris Pofalla